Stellungnahme zum Urteil des Tübinger Amtsgerichts

Stellungnahme des Bündnisses gegen das Cyber Valley zum Urteil des Tübinger Amtsgerichts wegen angeblichem Hausfriedensbruch im Gemeinderat

 

Am gestrigen Mittwoch, den 2. Dezember 2020, bestätigte das Tübinger Amtsgericht den Strafbefehl gegen einen 31-jährigen, der vor einem Jahr eine Sitzung des Gemeinderats gestört haben soll, indem er eine Stellungnahme verlas. Oberbürgermeister Boris Palmer hatte daraufhin Strafanzeige erstattet, offenbar ohne zuvor den Gemeinderat zu konsultieren.

Der hatte ungeachtet des Protestes mit einer Zweidrittel-Mehrheit dem Verkauf eines kommunalen Baugrunds für den Bau eines Amazon-Entwicklungszentrums zugestimmt. Ob Palmer auch bei der Erstattung einer Strafanzeige diese Mehrheit hinter sich hatte, wie er und das „Schwäbische Tagblatt“ behaupten, ist allerdings unbestätigt.
Offizielle Konsultationen oder eine Abstimmung hierzu haben nicht stattgefunden, wie Palmer selbst vor Gericht bestätigte.

Die Protestaktion nun als Angriff auf die Demokratie zu werten, der „den Rechtsfrieden schwer erschüttert“ habe, wie es die Staatsanwaltschaft formulierte, ist infam. Um nur ein Beispiel zu nennen: Bei der Gemeinderatssitzung saß der Leiter des Amazon-Entwicklungszentrums neben Bürgermeister und Baubürgermeister mit am Tisch und durfte seine unehrlichen Beschwichtigungen zur Konzernpolitik ausgiebig darlegen.
Amazon-Kritiker*innen waren nicht eingeladen und werden nun nach dem Verlesen einer Stellungnahme wegen Hausfriedensbruchs angezeigt.

Um ein anderes Beispiel zu nennen: Viele im Gemeinderat stimmten der Amazon-Ansiedelung mit Verweis auf den zeitgleich eingerichteten Ethik-Beirat zu – von dem allerdings seither kaum noch zu hören war. Auf die Forschung und das Geschäftsgebaren von Amazon hat dieser ohnehin keinen Einfluss. Dass im Cyber Valley bereits von Anfang an auch im Auftrag der US-Geheimdienste geforscht wurde, war diesem nicht bekannt, bis das Bündnis gegen das Cyber Valley im Frühjahr 2020 darauf hinwies.
Auch hierbei ist Amazon involviert. Der Gemeinderat hat sich dazu nicht geäußert geschweige denn Konsequenzen daraus gezogen.

Die Verträge, die dem Cyber Valley zugrunde liegen, sind ebenfalls trotz wiederholten Beteuerungen vier Jahre nach ihrer Unterzeichnung nicht veröffentlicht. Stattdessen wurden wir kürzlich informiert, dass aktuell Verträge mit dem japanischen Technologiekonzern NEC ausgehandelt werden. Dieser gilt als einer der 100 weltweit führenden Rüstungskonzerne und entwickelt darüber hinaus Anwendungen der Gesichtserkennung und der sog. intelligenten Videoüberwachung. Seine Vorstellungen der Smarten Stadt sind in schockierender Offenheit von allgegenwärtiger Überwachung und biometrischen Zugangskontrollen geprägt.

Solange im Cyber Valley weiter an Überwachungstechnologie geforscht wird und keine glaubhafte Abgrenzung von der Rüstungsindustrie stattfindet, wird es hiergegen Proteste geben. Das ist auch im großen Vorbild des Cyber Valley, dem Silicon Valley, so. In den USA findet längst eine breite Diskussion darüber statt, dass große Tech-Konzerne wie Amazon die Demokratie und Technologien wie Gesichtserkennung die Freiheitsrechte gefährden. Damit wollen sich die Befürworter*innen des Cyber Valley und von Amazon allerdings ebenso wenig auseinandersetzen, wie mit den Auswirkungen auf den Wohnungsmarkt. Die aktuellen Bemühungen der Tübinger Stadtverwaltung und vermeintlich auch einer Mehrheit des Gemeinderates, diese Proteste mit Repression zu ersticken und zu delegitimieren, stellen einen Versuch dar, von diesen inhaltlichen Auseinandersetzungen abzulenken. Wir werden diese mehr als notwendigen Auseinandersetzungen jedoch weiterführen und uns durch Kriminalisierungsversuche nicht einschüchtern lassen.

PS: Neben dem gestrigen Prozess wurden noch zwei weitere Strafbefehle in derselben Sache erlassen, die wahrscheinlich auch zur Verhandlung kommen werden. Wer die Betroffenen unterstützen möchte, kann unter dem Stichwort/Verwendungszweck „Amazno“ an folgendes Konto überweisen:

Konto: DFG-VK Stuttgart (Deutsche Friedensgesellschaft – Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen)
IBAN: DE32 4306 0967 4006 1617 40
Zweck: „Amazno“

Pressespiegel:

https://www.swr.de/swraktuell/baden-wuerttemberg/tuebingen/amazon-gegner-vor-gericht-100.html

https://www.swr.de/swraktuell/baden-wuerttemberg/tuebingen/amazon-gegner-urteil-100.html

https://www.tagblatt.de/Nachrichten/Amazon-Gegner-wegen-Hausfriedensbruchs-vor-Gericht-479785.html

https://www.tagblatt.de/Nachrichten/Protest-in-Gemeinderatssitzung-Richterin-bestaetigt-Strafbefehl-gegen-Amazon-Gegner-481509.html

https://www.gea.de/neckar-alb/kreis-tuebingen_artikel,-prozess-gegen-anti-amazon-aktivisten-strafantrag-von-boris-palmer-strittig-_arid,6357171.html

https://www.gea.de/neckar-alb/kreis-tuebingen_artikel,-amtsgericht-t%C3%BCbingen-verurteilt-amazon-gegner-wegen-hausfriedensbruchs-_arid,6360528.html

https://www.heise.de/tp/features/Cyber-Valley-Protest-vor-Gericht-4937455.html

 

Kundgebung am Mittwoch, den 25. November

 

Solidarität mit den angeklagten Amazon-Gegner*innen
Gegen Amazon, das Cyber Valley, den digitalen Kapitalismus und seine Vollstrecker

„Diese Firmen haben zu viel Macht“, so ein Untersuchungsbericht des US-Repräsentantenhauses über die großen Player der digitalen Ökonomie, darunter Amazon. Doch in Tübingen frisst man Amazon weiterhin aus der Hand. Auf Empfehlung unternehmerischer Wissenschaftler*innen aus dem Cyber Valley stimmte der Tübinger Gemeinderat trotz Protesten dem Verkauf öffentlichen Eigentums zu, um ein Amazon-Forschungszentrum im Herzen des Tübinger Technologieparks zu ermöglichen. Für schlappe 500.000 Euro wurde ein Grundstück in bester Lage an den Projektentwickler Reisch GmbH verkauft. In der Nachbarschaft des Technologieparks richten sich neue Bauvorhaben mit teuren Miniapartments in 5 minütiger E-Bike Distanz vom Cyber Valley an wohlverdienende „beste Köpfe“ – für viele andere Menschen wird das Wohnen in Tübingen derweil unbezahlbar.

Nun wird nochmal nachgetreten. Gegen drei Amazon-Gegner*innen wurden Strafbefehle wegen Hausfriedensbruchs erlassen. Als Hauptbelastungszeuge dient jeweils Oberbürgermeister Boris Palmer. Die Strafbefehle belaufen sich jeweils auf 50 Tagessätze.

Einem ersten Angeklagten wird am 25.11. um 13:30 vor dem Tübinger Amtsgericht der Prozess gemacht. Ihm wird vorgeworfen, während der Gemeinderatssitzung aus einem Thesenpapier des Amtes für Heeresentwicklung zu „Künstlicher Intelligenz in den Landstreitkräften“ vorgelesen zu haben, um auf die militärischen Verwicklungen von Amazon aufmerksam zu machen. Wir nehmen den Prozess zum Anlass, unsere Solidarität zu zeigen und nochmal darauf hinzuweisen, dass Amazon kein guter Nachbar ist. Amazon gefährdet den Einzelhandel, den Datenschutz und die Rechte von Arbeitnehmer*innen. Amazon setzt auf grenzenloses Wachstum und ungehemmten Konsum. Amazon gefährdet die Demokratie und das Klima – nicht nur in Tübingen, sondern weltweit. In den USA ist man sich dem zunehmend bewusst. V.a. die dortigen Demokraten haben sich wiederholt für eine Einhegung oder gar Zerschlagung des Konzerns ausgesprochen. In New York und Schwäbisch Gmünd wurden Ansiedelungen von Amazon politisch verhindert – in Tübingen dagegen mit aller Gewalt durchgesetzt.

Wir rufen anlässlich des Prozesses am 25.11. um 13 Uhr zu einer Kundgebung in Solidarität mit dem Angeklagten auf: Gegen den digitalen Kapitalismus, die damit einhergehende Umverteilung und deren willigen Vollstrecker in Verwaltung und Wissenschaft.

Pressemitteilung vom 12.6.2020

Gesichtserkennung auch im Cyber Valley beenden

Nach dem gewaltsamen Tod von George Floyd und den dadurch induzierten Massenprotesten gegen rassistische Diskriminierung hat der US-amerikanische Technologiegigant IBM angekündigt, nicht nur aus dem Geschäft mit Gesichtserkennung auszusteigen, sondern auch jegliche Forschung hierzu einzustellen. Als Grund nennt das Unternehmen die damit einhergehenden Möglichkeiten zur Massenüberwachung und die dabei immer wieder auftretende Diskriminierung von Minderheiten. Dies berichten zahlreiche US-amerikanische Medien übereinstimmend und hierzulande u.a. das Redaktionsnetzwerk Deutschland (https://www.rnd.de/digital/usa-tod-von-george-floyd-ibm-beendet-geschaft-mit-gesichtserkennung-NP4WJG6ZB5DT3B6JPSEG5EPTQA.html). Auch Amazon hat nun offenbar vorübergehend die Anwendung seiner Gesichtserkennungs-Software ‚ReKognition‘ durch die US-Polizei „untersagt“ (https://www.tagesschau.de/ausland/amazon-gesichtserkennung-101.html).

Das Bündnis gegen das Cyber Valley begrüßt den überraschenden Schritt von IBM und fordert, dass auch in den am Cyber Valley beteiligten Institutionen die Forschung zur Gesichtserkennung eingestellt wird. Die Landesregierung Baden-Württemberg als Impulsgeber für die Forschungskooperation Cyber Valley führt aktuell einen Pilotversuch zur ‚intelligenten Videoüberwachung‘ am Mannheimer Hauptbahnhof durch. Amazon als einer der wichtigsten Industriepartner des Cyber Valleys gilt als Pionier und treibende Kraft der automatischen Gesichtserkennung und baut aktuell in Tübingen ein Entwicklungszentrum für maschinelles Lernen. In unmittelbarer Nähe hierzu soll in Kürze ein weiteres solches Entwicklungszentrum des Unternehmens Bosch entstehen. Auch Bosch ist in der Sparte Gebäudetechnik mit der Übernahme von Anteilen des israelischen Unternehmens ‚Anyvision‘ 2018 groß in das Geschäft mit der Gesichtserkennung eingestiegen. An der Universität Tübingen werden u.a. am Lehrstuhl für Kognitive Systeme im Fachbereich Informatik Systeme zur Gesichtserkennung optimiert (z.B. http://www.cogsys.cs.uni-tuebingen.de/forschung/terminiert/face_tracking/index.html). Dabei kommen häufig sog. ‚Künstliche Neuronale Netzwerke‘ zum Einsatz, wie sie am Cyber Valley u.a. mit Mitteln der US-Geheimdienste weiterentwickelt werden (s. http://www.imi-online.de/2020/05/15/cyber-valley-mpi-und-us-geheimdienste/).

„Das Bündnis gegen das Cyber Valley hat wiederholt darauf hingewiesen, dass hier insbesondere Forschung zum maschinellen Sehen und zur Situationserkennung betrieben wird und dass damit auch neue Überwachungstechnologien entwickelt werden, die zur Diskriminierung von Minderheiten neigen und u.a. bei Militär, Grenzschutz und Polizeien zur Anwendung kommen“, so Leo vom Bündnis gegen das Cyber Valley. „Während immer wieder auf die vermeintlichen Europäischen Werte verwiesen wurde, müssen wir feststellen, dass zumindest bei der Gesichtserkennung die ethische Debatte in den USA viel weiter ist. Dort haben schon mehrere Großkonzerne darauf hingewiesen, dass man der Entwicklung und Anwendung solcher Technologien Grenzen setzen müsse“. Die jetzige Entscheidung von IBM solle man sich im Cyber Valley zum Vorbild nehmen, anstatt munter draufloszuforschen und jede Verantwortung für den Einsatz solcher Technologien von sich zu weisen. Außerdem sei der Ausstieg von IBM aus der Gesichtserkennung ein klares Indiz dafür, dass eine diskriminierungsfreie Anwendung solcher Überwachungs- und Kategorisierungssysteme schlicht nicht realisierbar ist.

Kontakt: info [ at ] nocybervalley.de